Sunday, February 12, 2012

Sample Sunday

Hier mein Beitrag zum Twitter-Phänomen, das "Sample Sunday" genannt wird, und bei dem Autoren Auszüge ihrer Werke frei zum Probelesen anbieten.

Im Folgenden nun also das erste Kapitel meines noch unveröffentlichten Jugendromans "Wer ist CLAW?":

Kapitel 1: Die Ankunft

Jetzt sind wir also hier.
Ich blicke zum Dach des Bahnhofs.
Mehrere metallische Bögen, die sich über die gesamte Länge der Halle erstrecken, und von ebenso
metallischen Säulen gestützt werden. Die ganze Konstruktion erinnert mich an das
metallüberzogene Gerippe eines längst verwesten Tieres. Ich muss plötzlich an Terminator denken.
Aber das hier war wohl nicht T-800, sondern Terminatosaurus Rex. Komischer Name...
„Komm jetzt, Dima!“
Vater steht mit verschränkten Armen neben mir. Dann dreht er sich um und geht zum
Fahrkartenautomat. Ich folge ihm.
„Was gibt es denn da oben so Tolles?“, fragt er.
„Nichts.“
„Ein weiterer hässlicher Bahnhof...“, knurrt er.
Von Kreativität und Terminator hat er bestimmt noch nie etwas gehört. Ich sehe ihn an. Seine
grauen Haare, die Hakennase und die tief in den Höhlen liegenden Augen geben ihm etwas
Mysteriöses. Menschen, die so aussehen, spielen in Actionfilmen sadistische Verhörspezialisten.
Er steckt das Ticket in die Tasche, blickt kurz zum Dach und schüttelt den Kopf.
„Was ist denn?“, will ich wissen.
Er zeigt nach oben.
„Schau dir an, wie das aussieht. Ein Skelett! Etwas Fröhlicheres ist denen wohl nicht eingefallen.“
Ich zucke mit den Schultern.
„Die haben halt nicht auf Schönheit geachtet. Das ist nicht Moskau.“
„Das weiß ich auch!“
Wir steigen zu den U-Bahnen herab.
Mein Blick fällt sofort auf einen der einfahrenden Züge.
„Schau mal, wenigstens sind die Züge hier schöner. Nicht solche hässlichen Wracks wie in
Russland.“, sage ich.
„Sie erfüllen ihren Zweck...“, erwidert mein Vater.
„Genau wie das Bahnhofsdach!“, pariere ich.
Er grinst kurz, wobei die Grimasse, die dabei entsteht, aussieht, als hätten seine Muskeln bereits vor
langer Zeit das Lächeln verlernt.
„Noch zwei Minuten.“, knurrt er.
Mein Blick gleitet zur Wand. CLAW. Ein Graffiti in lila Buchstaben. Beim C grinst ein Goblin
durch die Halböffnung. Er hat spitze, grüne Ohren, eine entschieden zu lange Nase und
Gesichtszüge, die sonst nur auf Karikaturen zu sehen sind. In seinem Mund steckt eine Pfeife. Ein
schwarzer Mantel umweht seine Schultern. Auch beim L sitzt ein Goblin und hält ein
Maschinengewehr in der Hand. Ich stoße einen Pfiff aus.
„Was meinst du, wie haben die das gemacht?“
„Weiß ich nicht.“, antwortet Vater und wendet sich demonstrativ ab.
„Aber das Grafitti hat was.“
Ich sehe noch einmal hin. Der rauchende Goblin schaut mir direkt in die Augen.
Wahnsinn.
„Das ist Vandalismus. In der Sowjetunion...“, sagt Vater plötzlich.
Ich werfe ihm einen grimmigen Blick zu.
„Die Sowjetunion ist zerfallen, falls du es noch nicht bemerkt hast.“
Er seufzt.
„Ja, leider...“
„Wieso sind wir dann nicht da geblieben, wenn du ihr nachtrauerst?“
„Wo?“
„In Russland!“
Unser Zug unterbricht das Gespräch. Vater steigt ein und setzt sich hin. Ich setze mich zu ihm.
„Und?“, harke ich nach.
Er versucht bei unangenehmen Fragen immer, wegzulaufen. Aber diesmal gibt es kein Entkommen.
Die Türen schließen sich. Der Zug setzt sich in Bewegung. Vater seufzt. Dann blickt er mir direkt in
die Augen.
„Du verwechselt Russland mit der Sowjetunion. Das ist so, als würdest du einen Vater für die
Verbrechen seines Sohnes verurteilen. Ich war Lehrer, sowohl in Russland als auch in der
Sowjetunion. In der Sowjetunion ging es mir sogar relativ gut. Aber in Russland ist mein Lohn
unter jedes erträgliche Niveau gesunken!“
„Trotzdem sind Lehrer angesehener, als Museumswächter...“
„...werden aber gleich bezahlt. Aber hier geht es nicht um mich!“
„Um wen sonst?“
Er sieht mich verständnislos an.
„Um dich natürlich! Wir sind hier in Europa. Im Westen, wie wir damals gesagt haben. Hier hast du
wesentlich mehr Chancen, als in Russland!“
In diesem Moment verlässt der Zug die Dunkelheit des Tunnels. Zu beiden Seiten ragen
Bürogebäude in die Höhe.
Einige Stationen später ändert sich das Bild: Reihenhäuser ersetzen nun die gläsernen
Wolkenkratzer. In der Ferne sieht man einige Wohnblocks in tristem Grau.
„Wir müssen raus!“, sagt Vater und erhebt sich. Kaum ist der Zug zum Stehen gekommen, ist er
schon draußen. Wieso hat er es bloß so eilig?
Der Bahnhof, auf dem wir aussteigen, hat zwei Gleise und eine Brücke, die sie verbindet. Dorthin
bewegen wir uns nun. Ich werfe einen Blick hoch. Eine Taube erwidert meinen Blick. Ich setze
besser meine Kapuze auf.
Plötzlich seufzt mein Vater erleichtert und blickt zu den Treppen. Ich folge seinem Blick. Oben
steht ein Mann und winkt uns zu. Meine Augen weiten sich. Im ersten Moment habe ich den Mann
für einen Doppelgänger meines Vaters gehalten. Die beiden sehen sich zu ähnlich. Fast wie...
„Sergej!“
„Alexej“
…Brüder.
Alexej dreht sich zu mir.
„Hallo Dima!“
„Hallo, Onkel Alexej!“
„Du bist in den zwölf Jahren gewachsen. Aber ein Mann bist du noch lange nicht!“
Mein Onkel geht zu den Bushaltestellen. Und daran vorbei. Es dämmert langsam. Die Mauer aus
Hochhäusern, auf die wir uns zu bewegen, wirkt wie eine Armee riesiger Krieger. Sie öffnen
langsam ihre leuchtenden Augen. Als würden sie aus dem Schlaf erwachen, in den sie tagsüber
verfallen.
„Wieso haben wir nicht den Bus genommen?“, frage ich.
Alexej wirft mir einen verächtlichen Blick zu.
„Bist du erschöpft?“
Ich schüttle den Kopf.
„Na also. Wieso beschwerst du dich? Sergej trägt doch das Gepäck!“
Ich senke den Kopf. Das ist also unser Wiedersehen nach zwölf Jahren.
Wir bleiben vor einem kleinen Gebäude stehen. Im Vergleich zu den Riesen aus Beton wirkt dieses
Gebilde eher wie eine zu groß geratene Hundehütte. Alexej tritt ein und kommt mit einem
Schlüsselbund zurück.
„Woher hat er die?“, frage ich erstaunt.
„Er ist der Hausmeister.“, antwortet Sergej.
Derweil hat mein Onkel bereits den Eingang zu einem der Hochhäuser aufgeschlossen und den
Fahrstuhl geholt.
Wir betreten die stählerne Kabine. Alexej drückt auf die Vier. Sekunden später sind wir oben und
bewegen uns auf eine der weiß gestrichenen Wohnungstüren zu. Sie ist genauso weiß, wie der Flur.
Ich komme mir vor, wie in einer Arztpraxis.
„Wir sind da!“, sagt Alexej, dann schließt er auf.
„Ähm...“
„Was ist?“, fragt er.
„Dürfen wir das eigentlich?“
„Ja. Sergej hat alle Formulare unterzeichnet. Er war schon mehrmals hier.“
Kaum hat Alexej die Tür geöffnet, blicke ich auf leere Wände. Sergej klopft mir auf die Schulter.
„Tja, Dima. Vor uns liegt viel Arbeit.“, sagt er.
„Worauf sollen wir denn schlafen?“
„Ihr habt doch Schlafsäcke, oder?“, mischt sich mein Onkel ein.
„Ja aber...“
Er wirft mir einen grimmigen Blick zu.
„Aber was?“
Ich schüttle den Kopf. Er nickt zufrieden.
„Na also!“
Dann dreht er sich um und geht aus der Wohnung.
Hinter ihm fällt die Tür mit einem Knall zu.
„Was ist denn mit ihm los?“, frage ich.
„Er war Major beim Speznaz.“
„Speznaz?“
„Die sowjetische, und jetzt russische Spezialeinheit.“, erklärt mein Vater.
Meine Augen weiten sich. Ich wusste, dass mein Onkel beim Militär war. Aber das wusste ich nicht.
„Trotzdem hätte er sich wenigstens verabschieden können.“
In diesem Augenblick klopft es an der Tür. Ich blicke durch den Türspion. Alexej.
Er trägt zwei Klappstühle. Wortlos übergibt er sie mir und verschwindet wieder.
Ich reiche die Stühle an Sergej weiter und schließe die Tür.
Sofort klopft es wieder. Diesmal trägt mein Onkel einen Klapptisch. Er wirft ihn mir praktisch in
die Arme. Fast hätte ich ihn nicht gefangen.
„So, jetzt habt ihr alles, was ihr braucht. Bis morgen!“
Er dreht sich um und geht.
„Ich schlage vor, wir kaufen uns erst einmal etwas zu essen.“, sagt Vater.
Ich nicke, schließlich habe ich heute noch nichts gegessen.
Die Einkaufspassage befindet sich genau in der Mitte eines Rings aus Hochhäusern. Wie in
Moskau. Nur dort habe ich bisher so viele Hochhäuser auf einem Fleck gesehen. In dem Gewirr aus
Seitenstraßen, die sich von der Einkaufspassage aus in alle Richtungen schlängeln und den
Hochhausring wie Adern durchziehen, ist alles zugemüllt. Ein umgekippter Altkleidercontainer
blockiert eine Zufahrt. Verbranntes Papier liegt auf der Erde. Es sieht aus, wie nach einem Aufstand.
Mehrere Penner stehen vor dem Eingang zum Supermarkt und trinken Bier. Als wir den Laden
betreten, führen zwei Polizisten gerade einen Mann heraus. Ich kann nicht glauben, dass wir in so
eine schäbige Gegend gezogen sind.
Kaum sind wieder in der Wohnung, geht mein Vater in die Küche. Ich nehme mir einen
Klappstuhl und setze mich ans Fenster. Die Augen der Riesen leuchten gelb. Im Haus gegenüber
macht jemand den Fernseher an. Jetzt hat der Riese auch noch ein blaues Auge.
Unter mir sehe ich einen Spielplatz. Auf der Bank, unter einer Laterne, sitzen zwei Männer und
trinken Bier. Einer von ihnen steht auf und dreht sich mit dem Rücken zu mir. Auf seiner
Lederjacke ist eine Clownsfratze zu erkennen. Er macht einen Schlag in die Luft. Der andere Typ
nickt, dann erhebt er sich und macht ebenfalls einen Schlag in die Luft. Der Mann in der Lederjacke
ergreift die Hand, dann bewegt er seinen Ellenbogen zum Gesicht des Anderen. Beide nicken,
setzen sich wieder auf die Bank und stoßen mit ihren Flaschen an.
Irgendwie macht es Spaß, sie zu beobachten. Wieder stehen beide auf. Der Größere ergreift den
Jungen mit der Lederjacke von hinten und würgt ihn. Sein Mund bewegt sich, aber ich kann ihn
nicht hören.
„Essen ist fertig!“
Sergej steht an der Tür. Ich nicke kurz, dann wende ich mich wieder dem Fenster zu. Die beiden
Jungs nehmen ihre Flaschen und gehen. Na toll. Jetzt habe ich den Trick nicht gesehen.
Aber egal, ich habe Hunger. Nach dem Essen blicke ich noch einmal nach draußen. Die Bank ist
leer, nur die leuchtenden Augen der Wohnblocks schauen mich leblos an. Ich blicke auf die Uhr. Es
ist erst Acht. Trotzdem bin ich so müde. Kein Wunder, ich bin seit vier Uhr morgens auf den
Beinen. Langsam breite ich meinen Schlafsack aus und krieche hinein. Morgen habe ich Schule.
Mal sehen, was mich erwartet.

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